Brüssel-Korrespondent Kapern im Forum Heiligenberg:
EU als 27 separate Echokammern begreifen
Seeheim-Jugenheim. 15. März 2024. Schon die Antwort auf die Testfrage „Wann findet die Wahl zum Europaparlament statt?“ ließ Peter Kapern, Korrespondent des Deutschlandradios bei der Europäischen Union in Brüssel, erkennen: Die Gäste des Forums Heiligenberg in Jugenheim bringen Sachverstand mit, und sie dankten ihm für verdeutlichende Bewertungen zum Geschehen in Brüssel und Straßburg.
In der Tat: Der 9. Juni 2024 ist der Wahltag in Deutschland, die übrigen 26 Mitgliedstaaten wählen an unterschiedlichen Daten, beginnend am 6. Juni. „Es gibt keine europäische Öffentlichkeit, die einen einheitlichen Diskurs betreibt“, stellte Kapern klar. Es handele sich um Wahlen, die in den einzelnen Staaten nach den örtlichen Gesetzen und Debatten verlaufen. Und auch da gibt es Unterschiede: Es gibt keine 5-Prozent-Hürde, an der kleine Parteien scheitern könnten – auch in Deutschland nicht. Und wenn hierzulande das Waffensystem Taurus die politischen Wogen hochgehen lässt, so erhitzen etwa in Polen die zollfreien Getreidelieferungen aus der Ukraine die Gemüter, anderswo sind es die Kosten der geplanten EU-Erweiterung. „Die Union besteht aus 27 separaten Echokammern“, sagte Kapern.

Trotzdem, so machte der Rundfunkkorrespondent den Zuhörern deutlich: „Das Europaparlament wird über Ihr privates Leben bestimmen!“ Die Journalistin Linda Kierstan von der ZDF-Hauptredaktion „Politik und Zeitgeschichte“ und Moderatorin von der Sendung „heute – in Europa“ steckte als Moderatorin des Abends den Handlungsrahmen des europäischen Parlaments ab, dessen Bedeutung insbesondere seit der letzten Wahl 2019 zugenommen habe. Zwar habe von den drei Hauptsäulen, auf denen das politische System der Europäischen Union ruht, nur die Kommission das Initiativrecht für die Gesetzgebung; die Ausarbeitung, Kontrolle liegen beim Rat der EU und die Genehmigung letztlich beim Parlament.
Wenn auch der Begriff der „Spitzenkandidaten“ im EU-Wahlkampf nach Kapern eine private Idee zweier arrivierter Politiker gewesen sei, so habe sich gezeigt, dass das Amt der Kommissionspräsidenten bzw. Präsidentin aufgrund politischer Machtentscheidungen auf der Ebene der Staats- und Regierungspräsidenten zustande kommt. „Ursula von der Leyen galt anfänglich als schwach, weil sie mithilfe von Macron zu ihrem Amt gekommen ist. Sie hat sich zu einer starken Präsidentin entwickelt. Sie hat vieles bewegt, wie die Festlegung auf eine Klimaneutralität der EU bis 2050.“
Hatte 2019 die Frage des Klimawandels für einen Run junger Wähler gesorgt, so bleibt das Thema zwar bestehen; mehr noch aber machen sich gerade die jungen Wähler hierzulande Sorgen um den Aufwind, den der Rechtspopulismus in mehreren europäischen Ländern erlebt. Fragen hierzu kamen von zwei Schülergruppen aus dem Schuldorf Bergstraße bzw. von der Brecht-Schule in Darmstadt. Peter Kapern stellt mit den populistischen Äußerungen der extrem Rechten deren Gefahr nicht in Abrede, verwies aber auf die geringe Gestaltungskraft, die die betreffenden zwei Fraktionen im Europaparlament besitzen. „Man darf von der Stimmungsmache der AfD nicht auf ganz Europa schließen“. Selbst wenn die beiden Fraktionen der rechtsgerichteten Systemveränderer bei der kommenden Wahl von zurzeit circa 160 auf 180 Sitze zulegen sollten, so stellen sie bei z.Zt. 705 Abgeordneten keine gestaltende Kraft dar. Sie sind sich im Grunde selbst nicht einig.
Als Aufgaben für die kommende Arbeitsperiode des Parlaments stehen neben den „Dauerbrennern“ Ukrainekrieg und Klimawandel die Fragen der Erweiterung der EU und die dazugehörende Finanzierung, die komplette Neugestaltung des Haushalts und die Agrarproblematik mit einer ggf. Rückabwicklung des „Green Deals“ als Herausforderungen an. Hier wird es interessant sein, wie die Kräfte der Mitte sich politisch formieren werden – eine schwierige Aufgabe für den EVP-Vorsitzenden Manfred Weber. Die EU bleibt auch in diesem Fall für den Brüssel-Korrespondenten Peter Kapern „die größte Kompromissmaschine auf Erden.“
Und weil im Verlauf der Diskussion die alltägliche Bedeutung des Parlaments als „einzige Institution der Europäischen Union, die wir selbst als Bürger bestimmen können“, erkennbar wurde, endete der höchst informative Abend mit dem Appell des Forum-Vorsitzenden Gerd Zboril. „Gehen Sie zur Wahl! Nehmen Sie die Chance wahr!“ VW
Mitschnitt der Veranstaltung: