Der Osteuropaexperte Manfred Sapper zu Gast beim Forum Heiligenberg
Seeheim-Jugenheim. 11. Oktober 2022. Die Erwartungen waren gespannt: Der Gartensaal des Schlosses Heiligenberg konnte nicht alle aufnehmen, die zum Neustart des Forums Heiligenberg gekommen waren. „Brisant und ernüchternd“, so ein Teilnehmer, waren dann auch die Analysen und Perspektiven, die Manfred Sapper, Chefredakteur des politischen Fachmediums „Osteuropa“, zum Ukraine-Krieg und seinem Anstifter Wladimir Putin darlegte. „Der Krieg ist ein Testfall für uns alle. Wie schaffen wir es, Russland aus der selbst verursachten Isolation wieder herauszubekommen?“ fragte er.
Erfreut zeigte sich der Leiter des Forums, Gerd Zboril, von dem enormen Zuspruch nach der Corona-bedingten Zwangspause dieser Serie von Diskussionsveranstaltungen der Stiftung Heiligenberg. Sie sollen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit zur Orientierung und zum Meinungsaustausch bieten.

Manfred Sapper legte den bis zum „imperialen Phantomschmerz“ gesteigerten Begründungswahn dar, der den kriegerischen Weg Putins von Anbeginn begleitete – von Georgien über Tschetschenien, dem Donbass und die Krim zum jüngsten Versuch, sich die Ukraine einzuverleiben und gegebenenfalls zu vernichten. „Wir alle, die wir mit dem Ruf ‚nie wieder Krieg‘ groß geworden sind, haben uns täuschen lassen,“ erklärte er. „Wirtschaftliche Interessen spielten eine größere Rolle als Menschenrechte“. Beschämend, dass ein Gerhard Schröder der Ukraine kurz vor dem Krieg noch „Säbelrasseln“ vorwarf.
Kennzeichnend für Putin sei der Satz, die friedlich verlaufene Auflösung der Sowjetunion sei die „größte geopolitische Katastrophe“ des vergangenen Jahrhunderts gewesen.
Viele Fragen des Publikums – straff moderiert durch den Chefredakteur der Rhein-Zeitung, Lars Hennemann – betrafen die Situation Russlands nach dem desaströsen Kriegsverlauf. „Putin ist nicht abwählbar, das System nicht zu modifizieren … Die Außenpolitik ist die Fortsetzung seiner Innenpolitik im Ausland. Er betreibt eine Politik der verbrannten Brücken, die er hinterlässt“. Wie lange sich der Putinismus halten werde? Darauf Sapper: „Der Stalinismus ist nicht ohne Stalin denkbar, der Nationalsozialismus nicht ohne Hitler und der Faschismus nicht ohne Mussolini. So wird es auch hier sein.“
Wann Europa aus diesem Krieg herauskommen werde? – Von drei Möglichkeiten sieht der „Osteuropa“-Chefredakteur nur die letzten zwei als wahrscheinlich an: 1. ein Blitzsieg, 2. ein Abnutzungskrieg, der sich noch lange hinschleppen dürfte und 3. ein Regimezusammenbruch des Aggressors. Sapper konstatiert: Die Widerstandskraft der Ukrainer ist durch die Kriegsgeschehnisse nur noch gewachsen, der Hass ist bodenlos. Verhandlungen gibt Sapper augenblicklich keine Chancen. „Der Zeitpunkt ist nicht reif“. Die Ukraine bleibt angesichts ihrer Errungenschaft nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der bisherigen Opfer bereit zur Gegenwehr: 75.000 ihrer Menschen verloren ihr Leben, und von 40 Millionen Staatsbürger sind 10 Millionen auf der Flucht. Atomwaffen werde Putin nicht einsetzen, er nutze vielmehr ihre abschreckende Existenz. Die Ukrainer als Betroffene haben davor keine Angst.
Welche Zukunft sieht Sapper für die Ukraine und ihr Verhältnis zu Russland? Das Land werde voraussichtlich eine staatliche Identität wie Israel entwickeln, dessen Raison in etwa so laute – „wir lassen uns nicht wieder abschlachten.“ Die Demokratie werde gefestigt sein und jeder Angriff von außen sofort erwidert. Nach einer so verbrecherischen Attacke auf ihre Selbstbestimmung und kulturellen Identität werde eine Normalisierung des Verhältnisses zwischen Russland und der Ukraine „Jahrzehnte, mindestens wohl zwei Generationen dauern“. WV
Mitschnitt der Veranstaltung: