Friedensforscher Dr. Jonas Driedger sieht russischen Angriffskrieg bis zur Erschöpfung weitergehen
Seeheim-Jugenheim. 4. Mai 2023. Ob es im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine jemals wieder Frieden gibt? „Der Abend lässt uns schwermütig zurück“, fasste Gerd Zboril als Vorsitzender des Forums Heiligenberg Jugenheim die Erörterung dieser Themenfrage zusammen.
Die Lage ist vertrackt Als Experte eingeladen war Dr. Jonas Driedger vom Leibnitz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Mit medizinischen Begriffen sezierte er die Ursachen des Krieges und prüfte, ob und welche Heilmittel es zur Deeskalation und nachhaltigen Sicherung eines Friedens gibt. Seine Diagnose: Wir erleben einen Abnutzungskrieg, der noch lange dauern und bestenfalls zunächst nur zu einem „negativen Frieden“ führen dürfte.
Wünschenswert – aber fern – sei ein „positiver Frieden“, dessen Grundlage die Herstellung einer Vertrauensbasis ist. Negativ sei ein Frieden zu bezeichnen, dessen Kriterium lediglich die Abwesenheit von Gewalt ist. Etwa der Kalte Krieg bis zur Wende. Positiv ist ein Friede, „wenn beide Seiten, unterstützt durch ein Narrativ der Gemeinsamkeit, sich sagen können: Der andere schießt nicht auf mich“. Wie lange es dauert, solch einen Zustand zu erreichen, habe die historische Entwicklung nach 1945 gezeigt. Das Vertrauen ist jedoch durch den Bruch des Völkerrechts durch Russland abhandengekommen. „Kriege um Territorien sind immer besonders blutig“, so Jonas Driedger.
Während Russland mit despotischen Mitteln die Geschichte zurückdreht, den Erhalt seines Systems zur Maxime erhebt und dazu noch eine etwa mit der Krim gewaltsam wiedergewonnene „russische Welt“ als heilig betrachtet, hat dieser Staat innen- wie außenpolitisch eine Position aufgebaut, die jedem, der diesem Dogma nicht folgt, mit „Furcht einflößenden Szenarien“ droht, frei nach dem Motto: „Man kann einer russischen Diplomatie keine Angst machen.“ Putin gehe es um den Erhalt seiner persönlichen Macht; zudem herrsche in Russland eine „genuine Paranoia“ gegen die NATO, dass das Verteidigungsbündnis Russland zerstören wolle.
Dem allem ausgeliefert ist die Ukraine, „eine demokratische Entität“, die – ähnlich Westdeutschland im Kalten Krieg mit seinem Ziel der Wiedervereinigung – nie den Gedanken an eine eigene Heimat aufgegeben hat. Besonders in den Jahren von 2014 bis 2021 hat es laut Driedger einen bedeutenden Zeitgeistwechsel in der Ukraine gegeben. Indem Putin dies ignorierte, zeigte sich in den Tagen unmittelbar nach dem Einmarsch, wie sehr er sich verkalkuliert hatte. Seine Truppen trafen auf heftigsten Widerstand und mussten um ersten Mal schwere Verluste hinnehmen. Angriffskriege gegen ein motiviertes Volk sind schwer zu führen und selten zu gewinnen.
Die Ukrainer sind trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit besser motiviert, verfügen zunehmend über das bessere und modernere Material und achten auf ein gut ausgebildetes und fähiges Unteroffizierskorps. Bei all dem hapert es bei den Russen. „Der Kampfeswille in Russland ist gering“, stellte Driedger fest, der selbst einige Zeit wissenschaftlich in Moskau gearbeitet hatte. Während die jüngere Stadtbevölkerung sich an einen westlichen Lebensstil gewöhnt hat, besitzt Putin in der Weite der Fläche seines Landes einen starken Rückhalt: Er hat für Ordnung gesorgt und die Renten gesichert. Aber er selbst lebt in dem Dilemma, dass nahe Verwandte und Freunde westlich orientiert sind.
Was können wir in Deutschland in dieser Situation tun? Die Fragen der Forumsgäste, moderiert von Prof. Bernd Steffensen von der Hochschule Darmstadt, waren durchzogen von dem Gedanken, es müsse doch auch andere Wege zum Frieden geben. Etwa der Slogan „Frieden schaffen ohne Waffen“. Es gebe nur den Weg, so der Kern der Antwort, Misstrauen abzubauen. Im jetzigen Moment eine extrem langfristige Perspektive. „Beide Seiten wollen Frieden, aber nur zu ihren Bedingungen“, beschrieb Driedger die Falle, in der die Parteien sitzen.
Wir selbst sollten „uns nicht der Hoffnung hingeben, dass es bald mit diesem Krieg vorbei sein wird.“ Komme es zu einem „negativen Frieden“, so werde der Hass bleiben. Und auf die Idee angesprochen, dass der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder wegen seiner Freundschaft mit Putin etwas bewirken könne, meinte Driedger: „Man muss nicht denken: Wir schicken jemanden in den Kreml, und der wird dann schon etwas erreichen.“ So einfach seien die Gräben nicht zuzuschütten. Der Friedensforscher gab auch zu bedenken, dass Russland trotz der geopolitischen Machtdiskussion in den zwei Jahren seines Eroberungskrieges weltweit nicht an Sympathien hinzugewonnen habe. Lehnten bei Kriegsbeginn 2022 in der UNO 100 Staaten den russischen Angriffskrieg ab, so waren es jüngst bei einer Abstimmung 141. WV
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