Forum Heiligenberg: Politikforscher Wolfgang Schroeder diskutiert ostdeutsche Landtagswahlen/ Ist die Demokratie in der Defensive?
Jugenheim. „Erfurt tickt wie Darmstadt? Die Ergebnisse sagen etwas anderes!“ Mit dieser Feststellung rückte der Politikwissenschaftler Professor Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel manche Vorstellungen zurecht, die man vor den Landtagswahlen in den Bundesländern in Thüringen, Sachsen und Brandenburg haben mochte. Er konstatiert unter der Wählerschaft ein „neues Ostbewusstsein“, dessen Symptome mit zu seinem Forschungsgebiet gehören.
In der dritten von vier Veranstaltungen, die sich mit Wahlen befassen, welche die Tektonik von Demokratien in der Welt verändern, befasste sich das Forum Heiligenberg der Stiftung Heiligenberg Jugenheim am 10. Oktober mit den Urnengängen in Ostdeutschland. Die Ausgangslage resümierte Forumsleiter Gerd Zboril mit den Worten: „Im globalen Trend gewinnen illiberale, nationalistische, autokratische, diktatorische Vorstellungen und Parteien bei Wählerinnen und Wählern zunehmend an Attraktivität.“

Foto: Stiftung Heiligenberg Jugenheim
Ist die Demokratie in der Defensive? Die Antwort auf das Thema des gerade auch von Schülern aus Jugenheim und Darmstadt regen wahrgenommenen Diskussionsabends ist vielschichtig und fordert zu aktivem Engagement heraus: „Auf Sie wird es ankommen!“ appellierte Professor Schroeder nicht nur an die junge Generation. Denn: „Die Demokratie bedarf einer entwickelten Gesellschaft“. Wie der Moderator Stefan Schroeder, Presseclub Wiesbaden, in der ausgebuchten Veranstaltung sagte: „Die Form unserer Demokratie ist auf dem Rückzug.“ Anders als in der „alten“ Bundesrepublik sind die Parteien in den genannten Ländern keine Milieuparteien. Seit der letzten Volkskammerwahl der DDR habe sich das statische Denken der Menschen wenig geändert. Die Wahlen seien, so das Team auf dem Podium ein „Votum für Status Quo“ gewesen. „Es darf sich nichts verändern.“
Hervorstechend war bei allen drei Wahlen das Erstarken der politischen Ränder. Entweder versprachen sie – wie das aus dem Boden geschossene Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) – Sicherheit und Kontrolle sowie ein Ende des Krieges in der Ukraine und/oder sie betreiben als AfD einen Populismus mit den Zielen, der Zuwanderung einen kompletten Riegel vorzuschieben, das Vertrauen in das parlamentarische System zu unterminieren, Politiker öffentlich zu stigmatisieren und Institutionen und Zuständigkeiten mit dem Ziel ihrer Beseitigung zu beschneiden. Das bei 30 Prozent liegende Wählerpotential für diese Parteien verteilt sich etwa pari/pari auf beide.
Zum BSW gab der Politikwissenschaftler Schroeder einem Debattenbeitrag aus dem Publikum recht: Zum Phänomen Sarah Wagenknecht hätten die öffentlich-rechtlichen Medien durchaus beigetragen. Sie sei in 240 Talkshows als „politische Unternehmerin“ aufgetreten, wofür es in Osteuropa Beispiele gebe. Man räumt dort einer Person eine „Ankerfunktion“ in der Demokratie ein. Das BSW sei – ähnlich wie die Partei von Geert Wilders in den Niederlanden – eine „Kaderpartei“ mit 500 Mitgliedern. „Beim BSW wird man nicht Mitglied, sondern man wird angestellt“, mokierte sich Schroeder.
Erkennbar wurde wieder einmal, so Wolfgang Schroeder, dass die Landtagswahlen zunehmend zu einer „kleinen Bundestagswahl“ mutieren. „Sie werden zu Arenen der Mobilisierung von Emotionen“. Gewalt wird angedroht und die Sprache verroht. Die eigentlichen Landtagsthemen treten stark in den Hintergrund. Mit nahezu 74 Prozent war die Wahlbeteiligung hochpolitisch. Die Funktion eines Ministerpräsidenten wird dabei vermehrt als die eigentlich anzustrebende Machtposition dieser Wahlen angesehen, woraus die Ministerpräsidenten Kretschmer und Woidke den Schluss gezogen hatten, ihre Position und Persönlichkeit voll zur Wahl zu stellen: Entweder ich gewinne oder ich gehe. Die Konsequenz war, so Professor Schroeder, „sie haben die Wahlen gewonnen, aber dadurch keinen Koalitionspartner mehr“. Heute könnte man auch sagen: Brandmauern beginnen zu wackeln.
In seiner Generalbeobachtung der Demokratie und ihrer Gefährdung überall in der Welt, stellte Professor Wolfgang Schroeder fest: „Der Krieg hat die Welt gespalten“. 45 Prozent der Staaten lassen sich als demokratisch bezeichnen, 40 Prozent werden autokratisch oder diktatorisch regiert, wobei bei den Demokratien nur 8 Prozent alle Kernkriterien dieser Regierungsform erfüllen: Gewaltenteilung, Kompromissbefähigung, Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit der Justiz oder auch Wettbewerb sowie Meinungs- und Pressefreiheit. „Und vergessen wir nicht: Demokratie ist mehr als eine Repräsentanz der Mehrheit. Die Integration und Inklusion aller ist darin wichtig, also auch der Minderheiten.“
Die abschließend vierte Forumsveranstaltung wird sich mit der Präsidentschaftswahl in Amerika befassen: „Quo vadis USA?“ am 21. November 2024. WV
Mitschnitt der Veranstaltung: